Ein Wegeunfall ist ein schwieriges und rechtlich komplexes Thema. Als gut gemeinte und meist funktionierende Ergänzung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zum Schutz des Betriebsfriedens gedacht, kann die hinter dieser rechtlichen Frage stehende Unfallversicherung in unglücklicheren Fällen die Eintrittskarte für ein kompliziertes Labyrinth der Behördenzuständigkeiten sein.
Nur eines steht schon zu Beginn fest: Wenn möglich, möchte niemand irgendwas oder zumindest so wenig wie möglich zahlen. Nach einem Unfall kann die Krankenkasse, die Pflegekasse, die Rentenversicherung oder die Unfallversicherung involviert sein. Umso wichtiger zu wissen, wer was wann tun muss!
Trockene Kost? Weit gefehlt! Gerade Fälle um die Unfallversicherung stehen häufig mitten im Leben. Um das zu zeigen, habe ich einen spektakulären Fall mitgebracht, der diese etwas technisch daherkommende Situation mit ungeahntem Leben füllt. Wem mein letztes Werk vermutlich wohlhabende Unternehmer in die Schweiz begleitete, bleibt der Protagonist diesmal komplett in heimischen Sphären.
Neben der rechtlichen Seite resoniert der heutige BSG-Fall (Urt. v. 30.03.2023, Az. B 2 U 3/21 R) mindestens ebenso stark mit meinem inneren Kind. Jeder hier leistete sich vermutlich auch einige Jugendsünden. Wenn die Welt von Kindheit zur Jugend mit jedem Tag wächst, geht das in der Pubertät nicht nur mit dem Wunsch einher, diese Vielfalt nicht nur aus ganzem Herzen zu erleben. Man möchte dem Ganzen auch einen eigenen Stempel aufdrücken.
Das Lebensgefühl in der Jugend ist wirklich etwas Besonderes. Ich mag damals etwas zahmer gewesen sein, aber habe mir selbst durchaus die ein oder andere fragwürdige Aktion geleistet. Für den Kontext passend, wenn auch ein paar Jahre später: Nach der Ersti-Feier am Einführungstag der Uni bin ich sternhagelvoll durch die Frankfurter U-Bahn-Tunnel gelaufen, weil es „der schnellste Weg“ war. Zu meiner Verteidigung: Ich hatte zumindest die Geistesgegenwart, jenseits der damaligen Betriebszeiten unterwegs zu sein!
Der heutige Fall wird uns ebenfalls auf die Gleise führen. Anders als mein kleines Abenteuer, das zu einer meiner Lieblings-Anekdoten bei Dates geworden ist, werden die Folgen dieser Aktion den Kläger noch bis ans Lebensende begleiten – und zwar nicht nur als Eisbrecher. Im Kern liegt, auf den ersten Blick sicher verwunderlich, eine Frage des Unfallversicherungsrechts:
Geht es noch um einen Wegeunfall?
Dummheit auf dem Schulweg – Wegeunfall oder nicht?
Unser Anno 1999 geborene und zum Zeitpunkt des Unglücks 16 Jahre alte Kläger war seiner Zeit Gymnasiast mit starken schulischen Leistungen. Nach einem langen Schultag begab er sich zusammen mit einem guten Freund in die Regionalbahn, um nach Hause zu kommen. Während der Zug fuhr, öffnete er die Durchgangstür des letzten Waggons mit einem extra hierfür bei sich geführten Vierkantschlüssel und stieg auf die den Zug antreibende Lok.
Warum? Der Aussage des Klägers nach wollte er hiermit Videos von Leuten aus dem Internet, welche wohl ähnliche Stunts erfolgreich durchgezogen hatten, nachahmen. Sein Freund und er schauten sich sowas regelmäßig an. Sein Freund hatte ihn zwar mehrmals davor gewarnt, die „Darbietungen“ im Video nicht nachzuahmen. Leider sah sich der Kläger bereits als Profi. Ähnliche „Spritztouren“ in der Vergangenheit gingen ja schon gut. Needless to say: Der Kläger ignorierte daher den Freund.
Anders als die letzten Male war dem Kläger das Glück nicht hold. Er rutschte auf einem Lichtbogen aus, stürzte von der Lok und zog sich lebensgefährliche Verletzungen zu. Er kam mit dem Leben davon, erlitt dafür jedoch hochgradige Verbrennungen von 35 Prozent auf seiner Körperfläche.
Die Rettung war nicht weniger spektakulär. Es wurde sogar ein Hubschrauber eingeschaltet – allerdings auf Vorkasse der Kläger neben der Behandlung. Er forderte daher die Erstattung aller seiner durch den Vorfall entstandenen Kosten.
Die Beklagte, der Träger der Unfallversicherung, wollte hierin keinen Arbeitsweg des Kindes und damit auch keinen Wegeunfall erkennen. Vielmehr habe die eigenmächtige, risikoreiche Tätigkeit des Klägers den Weg wertend betrachtet unterbrochen und damit den Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit zerstört. In einem Bescheid lehnte es daher da Vorliegen eines Arbeitsunfalls und damit eine versicherte Tätigkeit ab.
Das Sozialgericht hob diese Entscheidung auf und verurteilte die Beklagte zur Zahlung. Das SG war der Meinung, dass der Kläger typischem Imponiergehabe Jugendlicher erlag, weil er seinen Freund beeindrucken und seine eigenen Grenzen ausreizen wollte. Er habe sich infolge seines jungen Alters selbst überschätzt und sei wegen der Gruppendynamik übermäßig risikobereit gewesen. All diese Risiken seien der Kern eines Arbeitsweges von Schülern, welche wegen dieser Neigungen besonders schutzbedürftig seien.
Das nach Berufung der Beklagten entscheidende LSG hat die Klage abgewiesen. Der Kläger habe den spielerischen Rahmen auch unter Berücksichtigung der Gruppendynamik unter Jugendlichen stark überschritten. Er sei wegen seiner herausragenden Noten geistig reif genug gewesen, die Folgen und Gefahren seines Handelns zu erkennen.
Die Kläger wollten das nicht akzeptieren und wandten sich mit einer auf Verletzung von § 8 SGB VII (die Definition eines Arbeitsunfalls) gestützten Revision gegen das Urteil des LSG.
Selbst Schuld oder typische Jugendsünde? Das sagte das BSG zum möglichen Wegeunfall
Das BSG sah es so wie die Ausgangsinstanz, also das SG: Es liegt ein Arbeitsunfall vor.
An den hinter dem Urteil steckenden Richtern ist vermutlich ein kleines Heer Klausurersteller verloren gegangen. Die Entscheidungsgründe schlüsseln fast schon im Stil einer Lösungsskizze jede einzelne Voraussetzung einzeln auf, definieren sie sauber und wenden das Recht lehrbuchmäßig auf den Fall an. Auf einer akademischen Ebene ist das Urteil sicher auch interessant, weil sich an ihm wunderbar die kleinen aber feinen Unterschiede der Zurechnung im Rahmen der Unfallversicherung in Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten auschlüsseln lässt. Ich werde das im Folgenden nur insoweit vertiefen, wie es für die Kernaussagen des Urteils relevant ist.
Ein Arbeitsunfall erfordert nach § 8 I SGB VII viererlei: 1. Zurechnung der „Verrichtung“ (also dem, was der Verletzte bei Erleiden des Unfalls nachging) zu einer versicherten Tätigkeit (innerer Zusammenhang), 2. hierdurch entstand ein zeitlicher begrenztes, auf den Körper einwirkendes Ereignis (Kausalität für das Unfallereignis) und 3. dieses Unfallereignis führte zu einem Gesundheitsschaden oder Tod (haftungsbegründende Kausalität). Viertens muss der Geschädigte als unfallversichert sein.
Um auch Leute ohne Jurastudium nicht zu verlieren: Ja, unser Kläger war auf seinem „Arbeitsweg“ nach Hause und er als Schüler unfallversichert. Der Weg zurück von der Schule nach Hause am Ende eines Unterrichtstages ist eine versicherte Tätigkeit (§ 2 I Nr. 8 lit. b) SGB VII) nach gesetzlicher Definition! Der Gesetzgeber packte auch Kinder unter die Unfallversicherung, weil er ihnen wegen ihrer Rolle als Stützen der Gesellschaft in nächster Generation einen besonderen Schutz geben wollte.
Die für uns (und alle vorigen Gerichte) interessanteste Frage ist jedoch die Frage nach dem inneren Zusammenhang! Wichtig ist hier allein, dass die Gefahrerhöhung „unternehmensdienlich“ ist oder dies aus Sicht des Verletzten zumindest sein sollte. So bizarr dieser Passus anmuten mag, so erfüllt er für das Gericht eine wichtige Funktion: Es ist im Grundsatz egal, ob jemand eine Gefahr verschuldet hat oder er sie durch bewusste Risikosteigerung heraufbeschwört. Eine Grenze zieht der Gesetzgeber allein, wenn der Versicherte das Strafrecht verletzt und rechtskräftiig verurteilt wird (§ 101 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
Trotzdem ist auch mit diesen Ergänzungen für die Anwendung der Definition des inneren Zusammenhangs auf Kinder in der Schule wenig gewonnen. Das BSG besinnt sich zur Klärung der Frage, was bei einem Schulkind „unternehmensdienlich“ sei, darauf, warum Kinder überhaupt erst als Versichterte in die Unfallversicherung aufgenommen wurden: Wegen des hohen Allgemeininteresses an Schulbildung für Kinder und der starken Risikoanfälligkeit für unbeaufsichtigte Kinder bei ihren Wegen von und zur Schule müssen sie eine hohe Schutzbedürftigkeit genießen.
Zwar muss man bei einem Kind mit zunehmendem Alter und damit auch wachsendem Potential für den eigenmächtigen Entschluss zu außerhalb der Versicherung liegenden Taten Rechnung tragen; allerdings haben auch Jugendliche noch einen stark ausgeprägten Spiel- und Nachahmungstrieb. Sie sind insbesondere für die Eindrücke ihrer Gruppen sehr empfänglich. Die Unfallversicherung muss im Grundsatz auch für selbst verschuldete Arbeitsunfälle von Erwachsenen zahlen; das muss erst recht für Kinder und Jugendliche gelten.
Hiervon ausgehend erkannte das Gericht, dass der Kläger sich auf dem Weg nach Hause befand und sich hierauf (man möchte fast „Notgedrungen“ sagen) bei seinem kleinen Abenteuer auch noch weiter hierauf zu bewegte. Das genügt nach BSG, um einen objektiven Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit (Weg nach Hause) zusammenzustellen.
Die These der Beklagten, das Bahnsurfe durchbreche als private Tätigkeit die Zurechnung, stieß beim BSG auf taube Ohren. Um im Gegenteil sogar die besondere Gefahr für Kinder und Jugendliche gerade auf dem Weg von und zur Schule zu untermauern, führte das Gericht sogar Unfallstatistiken ins Feld. Es würde den Sinn der Ausweitung der Unfallversicherung ins Gegenteil verkehren, wenn ebendiese erwiesene Risikofreudigkeit jetzt den Versicherungsschutz versagen soll. Zudem führte das Gericht eine Fülle von Fällen an, in denen Erwachsene ähnlich sich stark selbst verschuldet auf dem Arbeitsweg verletzten, aber dennoch Versicherungsschutz hatten. Der Gedanke: Wenn schon ein Erwachsener sich unvernünftiges Verhalten leisten kann, muss das umso stärker für Kinder gelten.
Auf den Fall bezogen legte das Gericht besonderes Gewicht darauf, dass der Kläger sich über Monate hinweg Videos von „erfolgreichen“ Bahnsurfern anschaute und wegen seiner eigenen glimpflich verlaufenden Versuche in der Vergangenheit zu einer starken Selbstüberschätzung neigte. Seine guten Noten sind kein Garant dafür, nicht ebenso wie der „typische“ Jugendliche auch mal gefährlicheren Mist zu bauen. Seinem Willen nach wollte der Kläger ja trotzdem noch immer nach Hause kommen. (Anders wäre der Fall gewesen, wenn der Kläger eine Bahn genommen hätte, die ganz woanders hinfährt!)
Nochmal interessant wird es bei der Ursächlichkeit des Unfalls für den Schaden. Anders als bei Erwachsenen ist hier nicht maßgeblich, dass der Versicherte die Tragweite seines Tuns und das gewollte Ergebnis seiner Handlungen im Grunde erkennen und auf dieser Basis handeln kann. Dann wäre es – salopp formuliert – das Problem des Klägers und nicht der Versicherung. Wie bereits erläutert hält das Gericht Jugendliche für noch nicht reif genug, um solche Erwägungen zuverläsig treffen zu können. Stattdessen müsse der Schutzzweck der involvierten Normen, die Grundprinzipien der Sozialversicherung und die restlichen im Kontext relevanten Normen einen tauglichen Maßstab zur Zurechnung liefern.
Die uneingeschränkte Fähigkeit, nach seinen Impulsen zu handeln, konnte das BSG auch beim Kläger nicht erkennen. Nur weil jemand gute Noten schreibt, ist er nicht gleich wie die meisten anderen Teenager im Kern: Jung, risikofreudig und mehr als gewillt, gegenüber Freunden auch mit wilderen Aktionen zu imponieren. Im Hinblick auf die hohe Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen überträgt das BSG die eingangs erwähnten Gedanken zur Schülerunfallversicherung auch hier.
Es liegt also ein Wegeunfall vor. Das heißt: Die beklagte Versicherung muss zahlen, wie das vom Gesetzgeber auch als Regelfall angedacht war.
Was lässt sich aus dem Wegeunfall des Schulkindes mitnehmen?
Das Ergebnis mag auf den ersten Blick etwas befremdlich anmuten. Die meisten Leute, die von solchen oder ähnlichen Aktionen hören, werden sich erst einmal gegen den Kopf zu schlagen. Auch der in anderen Rechtsgebieten beheimatete Jurist wird sich wegen der auf den ersten Blick komplett anderen Maßstäbe als in anderen Rechtsgebieten vermutlich wundern.
So wird beispielsweise im Strafrecht schon seit Urzeiten diskutiert, ob der eigenmächtige Entschluss zu einer Eigengefährdung dafür sorgt, dass das Ergebnis nur noch dem sich selbst Gefährdenden zugerechnet werden kann. Auch das Zivilrecht bricht im Grundsatz den Zurechnungszusammenhang bei Selbstgefährdung. In weniger eindeutigen Fällen muss der Geschädigte zumindest mit einer Quotelung seines Schadensersatzanspruchs (§ 254 BGB) und/oder einem geringeren Schmerzensgeld rechnen.
Hier? Das eigene Verschulden ist der Unfallversicherung im Grundsatz egal, solange die Tätigkeit noch der versicherten Tätigkeit dient. Auch eigenmächtiges, risikoreiches Verhalten bricht den Zurechnungszusammenhang nicht.
Bei zweitem Blick ist das Urteil jedoch meiner Meinung nach wenig überraschend. Das BSG hat in seinem Urteil eine reiche Fülle an Fällen präsentiert, wo es einen Schaden trotz gewaltigen Eigenverschuldens an einem Unfall noch der versicherten Tätigkeit zurechnete. Es entwickelte seinen Maßstab lehrbuchmäßig anhand dem von ihm wahrgenommenen „typischen“ Fall eines Jugendlichen und setzte sich mit vermeintlichen Brüchen mit der Rechtsprechung auseinander. Der teilweise beschworene Bruch mit etablierter Rechtsprechung zur Schülerunfallversicherung ist meiner Meinung nach im Detail auch nur eine Wertungsfrage nach der „Schwere“ des Eigenverschuldens, was das BSG erkannte und zu Recht mit dem Vergleich zu Fällen mit Erwachsenen vorliegend großzügiger sah.
Auch aus einer allgemein-juristischen Sicht ist hier kein so großer Bruch mit dem Rest des Rechts, wie es anfangs wirken mag: Zurechnung ist immer etwas Wertendes. Wertungen müssen irgendwo herkommen – der Jurist zieht sie natürlich aus dem Recht. So lassen sich allgemein Risiken bestimmen, die natürlich je nach dem involvierten Rechtsgebiet andere Wertungen und damit auch andere Ergebnisse bei der Zurechnung in den Ring tragen. Das Prozedere bleibt jedoch ähnlich.
Konkreter geht es leider nur am Einzelfall. Der Komplex Zurechnung füllt für sich schon mehrere juristische und philosophische Bibliotheken. Im Detail hängt hier sehr viel von raffinierter Argumentation im Einzelfall und vom Framing des Sachverhaltes ab. Daher kann auch bei aus Laiensicht aussichtslos anmutenden Fällen der klärende Gang zum Anwalt lohnen. Ein Anwalt kann nicht nur aufzeigen, welche Wertungen für einen konkreten Fall relevant sind; er kann auch dabei helfen, den Sachverhalt so darzustellen, dass Außenstehende eher einen Schaden im Interesse der vom Anwalt vertretenen Partei zurechnen.
Das heißt nicht, dass ein Anwalt den Weg zu „seiner“ Wahrheit erlügt; das darf ein Anwalt berufsrechtlich auch nicht. (§ 43a III BRAO.) Es trägt lediglich der tieferen Wahrheit Rechnung, dass die Welt kompliziert ist und wir alle Lücken in unseren Wahrnehmungen haben. Hier jemanden zu haben, der an Deiner Seite steht, die fürs Recht wichtigen Aspekte herausarbeitet und sie für ein außenstehendes (Juristen-)Publikum bestmöglich darstellt ist bei unklaren Wertungsfragen sein Gewicht in Gold wert. Wie der Beklagte und das LSG im Fall zeigten, kann der Fall mit anderem Fokus auch ein rechtlich komplett anderes LIcht bekommen.
In diesem Geiste: Sollten Sie selbst im Unklaren sein, ob die Unfallversicherung für einen Schaden zahlt oder irgendeinen anderen Unfall gehabt haben, freue ich mich, an Ihrer Seite zu kämpfen! Dank bereits zahlreicher geführter Gerichtsverfahren vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann ich die rechtlichen Nuancen Ihres Falls nicht nur genau bestimmen, sondern in Ihrem Sinne überzeugend präsentieren! Melden Sie sich gern!
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