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A. Einleitung
Stell dir vor, du sitzt inmitten einer gewaltigen Halle umgeben von Fenstern und Dutzenen von Menschen. Dein Stuhl, hastig von einem Leidensgenossen in Eile übernommen, ist dein größter Segen in dieser Zeit, auch wenn das wenig vergebende Plastik langsam deinen Hintern zermürbt. Eine zunehmende Unruhe macht sich breit. Sie ist der einzige Indikator dafür, dass überhaupt Zeit ins Land gegangen ist.
Aus Neugierde schaust du auf die Uhr. Vor zwei Stunden sollte dein Flieger eigentlich gehen. Irgendwas ging wohl schief; dir ist eigentlich auch egal was. Dein Kopf versucht wieder und wieder, die farbenfrohen Blumenwiesen und eindrucksvollen Gebirge von Madeira zu materialisieren, doch der zunehmende Tumult erdet dich wieder und wieder. Gefangen zwischen versuchtem Traum und Wirklichkeit schmelzen die Stunden dahin.
Eine Durchsage. In drei Stunden soll der Flieger gehen. Technische Probleme oder Wetter wurde wohl erwähnt, vielleicht sogar beides. Den ersten platzt der Kragen. Inzwischen sind sechs Stunden vergangen; die Nerven liegen blank. Mit einem brennenden „Mir reicht’s!“ verlässt dein Sitznachbar seinen Platz. Ein Fünfjähriger stürzt sich auf ihn wie eine ausgehungerte Taube auf einen Krümel Brot. Du harrst aus… und schläfst ein.
Nun stellen wir uns zwei Szenarien vor: In einem rüttelt dich der Junge wach. Dein Name wurde aufgerufen. Du bedankst dich, gehst an Bord und landest beim Flughafen Funchal (FNC) mit ungefähr zehn Stunden Verspätung; im zweiten wachst du alleine auf. Ein Blick auf flightera.net offenbart, dass dein Flug wohl ohne dich ging. In Szenario drei bist du auch allein, nur weist dich da die Servicekraft am Schalter darauf hin, dass der Flug nun doch annulliert wurde.
Das Gerechtigkeitsempfinden bildet sich schnell eine Meinung zu jedem dieser Ausgänge. Natürlich kommt irgendwann auch ein Gesetzgeber auf den Geschmack. Über alle Zeiten bestand zumindest ein gemeinsamer Nennung: Für den Fall des annullierten Fluges musste es eine Entschädigung geben. Wie weit sie gehen sollte, was sie überhaupt abgelten sollte und welche Funktion sie hat, ist bis heute nicht ganz klar.
Dabei gibt es kaum einen Anspruch, der Gerichte in Deutschland in solch beachtlicher Zahl herum wie die „Ausgleichsleistung“ in Art. 7 VO (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: EuFlugVO.) herumtreibt. Wird ein Flug annulliert oder kommt er mehr x ≥ 3h zu spät am Endziel an, erhält ein Passagier entweder 250 € (bei einer Strecke von 1 – 1500 km, Art. 7 I lit. a) EuFlugVO), 400 € (bei einer Strecke zwischen 1501 und 3500 km, bis ∞ km bei Flügen innerhalb der EU, Art. 7 I lit. b) EuFlugVO) oder 600 € (bei einer Strecke ab 3501 km außereuropäischer Flüge, Art. 7 I lit. c) EuFlugVO). Das Konzept ist bis heute ein Unikum im Bereich Passagierrechte, da nirgends sonst ein pauschaler Betrag beim Ausfall eines Transports von Passagieren neben einem vollends zurückerstatteten Ticketpreis fällig wird.
Manch einer meiner Kolleg:innen und vor allem Low-Coster schimpften auf diesen irgendwie eigenartig anmutenden Anspruch, insbesondere seit seiner Ausdehnung durch die Rechtsprechung. Geld einfach nur dafür, dass ein Flug ausfällt? Blanker Hohn. Wenn ich ein größeres Herz für Unternehmen hätte entwickeln können, hätte ich vielleicht mit in den Chor der Kitiker:innen eingestimmt.
Mit der Zeit packte mich die Neugierde: Was steckt eigentlich dahinter? Es schwirrengenug Akzente und Meinungen in der Literatur herum, dass eigentlich für jede:n was dabei ist. Die Gesetzessystematik und die Geschichte dieses Anspruchs werfen ihre eigenen Fragen auf. Als Praktiker:in kommen diese Fragen allenfalls am Rande auf. Wir erinnern uns, warum. Dennoch sind sie wichtig, wenn wir uns mit konkurrierenden Ansprüchen, aber auch mit Gerechtigkeitsfragen beschäftigen.
Im Folgenden möchte ich die Geschichte und die Rechtsnatur der Ausgleichsleistung etwas beleuchten, um die Basis für einzelne Begründungsansätze und die ein oder andere Empörung klarer herauszuarbeiten. Hieraus führe ich in mein heutiges Bild von der Ausgleichsleistung ein — und verdeutliche, dass die airlineseits angeführte Kritik in meinen Augen für die meisten Fälle weder rechtlichen noch rechtspolitisch starken Halt halt. Zugleich versuche ich, ein paar juristische Fehlverständnisse und Mythen um den Anspruch auszumerzen.
B. Die Anfänge

Die unerwartete Blockade kurz vor der Zielgeraden: Die verweigerte Beförderung. Europa musste handeln. Foto von Katja Anokhina auf Unsplash
Am 04.02.1991 schrieb die damals noch Europäische Gemeinschaft Geschichte. In der VO (EWG) Nr. 295/91 setzte sie das erste Mal einen Pauschalanspruch ohne Exkulpationsmöglichkeit in die Welt. Zaghaft galt er vorerst nur für verweigerte Beförderungen. Sie ahnte es noch nicht, aber dieser scheinbar unbedeutende Anspruch war der Beginn etwas viel Größeren. Seine „vollkommene“ Form erreichte der Anspruch auf „Ausgleichsleistung“ im Jahr 2004 – und damit dem „Ärgernis“ und den „Unannehmlichkeiten“ einer Annullierung (und im Jahr 2009 auch großer Verspätungen) den offenen Krieg erklärte.
Damals, im Jahr unseres Herrn 1991, grassierte eine Unsitte durch die europäischen Lande: Airlines verkauften mehr Plätze, als es auf ihren Fliegern gab. Die großen Träume, Europas Luftfahrtindustrie mit einem starken Rechtsrahmen auf das nächste wirtschaftliche Level zu bringen, waren allen Gesetzgebenden noch wunderbar präsent. Doch was nützte dieses hehre Projekt? Ohne das Vertrauen der Fliegenden darin, überhaupt an ihrem Ziel anzukommen, würden die Himmel leer bleiben. Es musste also nach Meinung unserer Gemeinschaft was geschehen.
Seinerzeit preschte sie mit einem mutigen, noch etwas zaghaften Schritt voran. Es musste Verfahren geben, wie eine Airline mit Überbuchungen umgeht; welche, konnten die Unternehmen selbst entscheiden. Sie mussten aber die verbleibenden Sitze aufteilen und mit den „Hockenbleibenden“… umgehen. Wer nicht befördert wurde oder freiwillig hierauf verzichtete, erhielt neben einer pauschalen Ausgleichsleistung zwischen 150 bis 300 Euro (gedeckelt auf den Flugscheinpreis) die noch heute geltende Dreifaltigkeit der Grundbedürfnisse nach Art. 9 VO (EG) 261/2004:
- Verpflegung (Snacks, Essen und Trinken je nach Dauer der Wartezeit);
- Obdach (Hotel);
- und Zuneigung (Einen Anruf oder eines „Fernschreibens/Telefaxes zum Zielort“).
Maslow lässt grüßen, nicht wahr? Das Manna kam diesmal nicht aus dem Himmel, sondern von Art. 6 VO (EWG) Nr. 295/91. Wer sich freiwillig auf die Beförderung entsprechend dem Verfahren nach Art. 3 verzichtet, darf auch nicht mehr klagen – muss sich ja auch für die Airline lohnen (Art. 9 VO (EWG) Nr. 295/91).
Woraus könnte der Passagier denn andernfalls klagen? Aus seinem Vertrag mit dem Luftfahrtunternehmen oder dem Haftungsregime des Montrealer Übereinkommens (MÜ), damals noch ein wesentlicher Bestandteil des Reisendenschutzes in den Augen der Gemeinschaft.
Für Verspätungen (Art. 19 MÜ), Gepäckschäden und -verlust sowie Tod / Verletzung eines Passagiers (Alles Art. 17 MÜ) gab es beim Todesfall oder Verletzung eines Passagiers für diesen sogar eine verschuldensunabhängige Pauschalzahlung mit dem Hintergrund, dass so jedenfalls die sofort aufkommenden Kosten (Krankenhaus, Beerdigung etc.) unabhängig von einem Verschulden abgefedert werden sollen, Art. 28 MÜ. (Vgl. Führich/Staudinger/Achilles-Pujol, ReiseR, 9. Aufl. 2024, § 37, Rn. 26 f.) Ob das auf den späteren Schadensersatz angerechnet werden soll, durfte die Airline entscheiden.
Die Annullierung federte das Vertragsrecht und die hieraus erwachsenden Schadensersatzansprüche ab. Wer einen Passagier nicht befördert, obwohl er sich dazu verpflichtet hat, macht sich – Verschulden vorausgesetzt – in Höhe des Ticketpreises und weiterer Folgeschäden (zB nunmehr nicht mehr nutzbare Ferienwohnung, verpasste Events, zusätzliche Park- und Transportkosten etc.) in eigentlich jeder europäischen Rechtsordnung schadensersatzpflichtig. Klingt doch zusammen nicht schlecht, oder?
Wer den ersten Part gelesen hat, wird sich denken können, dass diese Geschiche vermutlich kein gutes Ende hatte. Der erhoffte Erfolg trat, so viel kann man aus den entrüsteten Erwägungsgründen des Nachfolgeaktes erahnen (Besonders bildlich ErwGrde 3 und 12 VO (EG) EuFlugVO.), nicht ein. Wie gingen wir hiermit um und welche Lektionen lernten wir?
C. Von Reisepreiserstattung zu Pauschalzahlung

Es schlug nun denn die große Stunde der EG! Aufmerksam lauschte sie den Echos tobender Mengen, die jedem Sturm über FNC oder Gewitter über PMI übertönte. Wehen von Passagieren, gefangen im tristen Niemandsland trister Ex-Militärflugplätze und institutionalisierter Minderwertigkeitskomplexe gelangten an die Ohren tausender Staatspersonen in Brüssel, manchmal Straßburg. Die Vertreter:innen der Gemeinschaft bemerkten, vielleicht selbst bei ihrer Wanderreise betroffen, dass es etwas mindestens ebenso Schlimmes wie eine Beförderungsverweigerung gab.
Wie tragisch war es erst, wenn statt ein paar Unglücklichen niemand mehr flog?
Das scheinbar engmaschige Haftungsregime des Montrealer Übereinkommens, dem wohl wichtigsten Haftungsregime im gewerblichen Luftverkehr, hatte selbst mit Schützenhilfe durch die EWG-Verordnung im privaten Bereich komplett versagt. Das Szenario der Überbuchung war dem MÜ egal, die alte EWG-Verordnung offenbar zu lasch. Daher sah es der ursprüngliche Gesetzgeber wohl auch als natürliche Ergänzung zum bestehenden Rechtsrahmen. Der Gedanke setzte sich bis in den Nachfolger fort, siehe ErwGrde 14 und 15 VO EuFlugVO.
Dieses Mal nahm der Verordnungsgeber mehr Haltung an. Mit neuem Mut in der Brust benannte er Annullierung, große Verspätung und Nichtbefördrung als die drei großen Feinde der Passagiere. Mit allen Mitteln waren sie zu bekämpfen. Die Verordnung zog an – besonders bei der Ausgleichsleistung.
Unter dem Eindruck der leidendenden Massen änderte sich auch die Rhetorik vor der Verordnung. Waren die Erwägungsgründe beim Vorgänger-Rechtsakt noch knapp und sachlich, stieg die EG diesmal schon zu Beginn mit Marschmusik und Bajonett in den Ring. Der Opferschutz destillierte sich in zwei Namen: „Ärgernis“ und „Unannehmlichkeit“, vgl. ErwGrde 3 und 12 EuFlugVO.
Natürlich sind das rein normative Emotionen, im Ergebnis ähnlich real wie das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“. Auf Deutsch: Es gibt sie nicht im echten Leben, aber wir Jurist:innen tun so, als ob. Als menschliche Schöpfungen haben auch sie ihre Zwecke. Wir Jurist:innen brauchen Namen, um Freiheitsbereiche im Einzelfall zu erweitern oder zu beschränken, denn in unserer Welt gibt es nur das Wort. Nur, was einen Namen trägt, existiert im Diskurs auch.
Dennoch: Vergleichen wir die Kommerzialisierbarkeit der reinen Emotion über ihre kreative Verarbeitung hinaus unter juristischer Linse, stellen wir nunmehr verwundert fest, dass sich Wut und Enttäuschung nirgends so sehr lohnen wie an einem Flughafen – zumindest, wenn die Gemüter sich wegen einer Annullierung erhitzen. Noch mehr wert kann nur vertane Urlaubsfreude sein, die aber nur bei Pauschalreisen! Schaut gern mal in § 651n II BGB und einschlägige Tabellen, wenn jemand hier betroffen sein sollte.
So, jetzt habe ich meiner Rolle als „Freund der Airlines“ genügt, oder? Wunderbar. Dann kann ich die Maske für die Zukunft fallen lassen und nur noch der Comedy wegen aufziehen.
Wie dem auch sei… Der Gedanke, pauschal eine Menge an Geld für die bloße Annullierung eines Fluges zu bekommen, wirkt auf den ersten Blick sehr eigenartig. Das empfand die Gemeinschaft ursprünglich auch so, weshalb ein solcher Anspruch bloß auf verweigerte Beförderungen ausgelegt war. Es wird umso eigenartiger, wenn dieses Konzept auf einmal in anderen Bereichen des Personentransport Schule macht – nunmehr als Koppelung an den Preis statt einer gottgegebenen Zahl. Bahn, Bus, Schiff… Bei allen ist eine etwaige Ausgleichszahlung – wie früher in der Luftfahrt – weiterhin an den Preis gekoppelt?
Spielte dann nur Rache und kein Preis bei der Wertsuche für das Ärgernis eine Rolle? Nein. Die Kommission setzte diese Zahlen eigentlich fest, weil 150 – 600 € der typische Preisspanne für damalige Business Class-Tickets war und ökonomischem Kalkül beim Überbuchen entgegengewirkt werden sollte.1 Dieser „Schockeffekt“ greift auch bei Annullierungen.
Es ist also nicht so, dass in Bus, Bahn und Schiff die Leute entweder weniger leiden oder im Falle der Deutschen Bahn schon zu enttäuscht sind, um noch mehr Energie für Empörung aufzubringen. Die Preisspannen sind schlicht andere. Dennoch wirkt auf den ersten Blick doch etwas ziemlich schief. Die Preiskoppelung sollte doch verhindern, dass eine Airline mehr an einen Passagier zahlen muss, als sie von ihm verlangt hat. Jetzt konnte es solche Fälle durchaus geben. War das nicht etwas unverhältnismäßig?
Vielleicht, wenn sich nicht noch etwas Anderes in die neue EuFlugVO geschlichen hätte. Es war ein unscheinbar anmutender, aber wirklich faszinierender Fremdkörper: Eine Anrechnungsmöglichkeit bei anderen Schadensersatzansprüchen, auf die die Airline allerdings auch verzichten konnte, Art. 12 EuFlugVO! Ist doch verdächtig nah an Art. 28 MÜ! Diese Parallele wird noch sehr wichtig werden.
Leider vernebelte die ebenfalls prägende „Kriegsrhetorik“ und der rapide Sprung in Anwendungsbereich und Betrag die Idee etwas. Mit der neuen Ausgleichsleistung im Gepäck und dem rhetorischen Feuer der Unannehmlichkeit im Herzen erhielten Zweifel Einzug. War das Montraler Übereinkommen wirklich das Ende aller Weisheit? Und was stellte diese „neue“ Ausgleichsleistung eigentlich dar?
In der heutigen Praxis erinnert sich eigentlich niemand mehr der Furore, die dieses damalige Herzensprojekt der EG hervorrief. Schockszenen eines Himmels ohne Kondensstreifen im westlichen Abendland stachen in die Herzen dutzender Airline-CEOs und Organisationen. Zwei Airline-Organisationen, die Krone und einzelne Airlines selbst trieb diese Sorge vor den EuGH in einer historischen Entscheidung, wo wirklich alle Register gezogen wurden. (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Slg. 2006, I-443 – IATA/ELFAA.) Die These? Der EU fehle die Gesetzgebungskompetenz! Sie setze sich über das Haftungsregime des Montrealer Übereinkommens hinweg. (Als pars pro toto: EuGH, 10.01.2006, Slg. 2006, I-443 – IATA/ELFAA, Rn. 38.)
Wie allerdings schon die Erwägungsgründe der Verordnung und die Begründung des EuGH zur Wirksamkeit der EuFlugVO zeigten (Wundervolle und sogar völkerrechtlich fundierte Begründung in EuGH, 10.01.2006, Slg. 2006, I-443 – IATA/ELFAA, Rn. 40 – 47.), wusste die EG sehr genau, was sie tat. Folgen von Annullierungen waren ausdrücklich in ihr geregelt. Auch die berüchtigte Ausgleichsleistung erhielt in ihrer Rolle als Trostpflaster der Billigkeit für gebrochene Herzen bei einer Flugannullierung ihren Platz an der Sonne. Art. 12 bekam hier kaum Beachtung und tut das auch im Folgenden nicht, es sei denn über eigenwillige Entscheidungen des EuGH – und das, obwohl das Herz und die Daseinsberechtigung der Leistung im Grunde in dieser kleinen Norm liegen.
D. Das Wesen der neuen Ausgleichsleistung

Ein kleiner Trost für ein erst einmal vermutetes, aber meist auch bestehendes Leid. Foto von Ryoji Hayasaka auf Unsplash.
Dabei zeigte diese Norm am besten auf, was die Ausgleichsleistung war: Statt einem leichten Weg, einen Teil bis den gesamten Ticketpreis zurückzubekommen, war sie ein kleiner Schadensersatzanspruch geworden. (So daher auch konsequent EuGH, 10.01.2006, Slg. 2006, I-443 – IATA/ELFAA, Rn. 71 f.) Wer wollte, konnte die vollen Schäden vor Gericht bekommen (Art. 12 I 2 EuFlugVO); der Rest würde – gemessen an der Kilometerzahl für den Flug, was typischerweise damit einhergehende stärkere Investitionen am Endziel abbildete – eine Art Mindestschaden ohne großen Nachweis „bar auf die Kralle“ (Art. 7 IV EuFlugVO) neben einem Ersatzflug und Hotel bekommen. Auch das war in den Materialien der Kommission, wenn auch eher beiläufig, als Rechtfertigung für die Pauschale angeführt worden3 und sorgte später für die Einfügung der Anrechnung (Vermeidung von Doppelkompensation4).
Ähnlich wie der pauschalen Zahlung für Todesfälle nach Montrealer Übereinkommen, wo einfach schon auf der Vermutung eines Schadensersatzanspruchs eine Zahlung erfolgt, sollte in der ursprünglichen Idee die „neue“ Ausgleichsleistung funktionieren. Wenn die Airline sich nicht nach Art. 5 III EuFlugVO exkulpieren kann, liegt ein weitergehender Schaden neben dem Schadensersatzanspruch sehr nah – ebenfalls genau wie bei Art. 28 MÜ.
Das ist auch kein Zufall, da Art. 5 III EuFlugVO sehr stark an eine Verschuldensprüfung erinnert: Ein außerhalb der Einflusssphäre der Airline stehendes Ereignis, dessen Folgen auch mit bis zu einer Opfergrenze angedachten Mitteln abgewehrt werden müssen? Klingt sehr vertraut, nur eben mit Blick auf den ganzen Flugbetrieb statt einer einzelnen Person. Nach Vorstellung des Gesetzgebers würde die Airline in den meisten Fällen die Ausgleichsleistung bezahlen; und da, wo das aus System zu Unrecht nicht geschehen sollte, müsste die säumige Airline den Zorn der Aufsicht fürchten, Art. 16 EuFlugVO.
Ihr glaubt den ersten Part nicht? Prüft mal einen Schadensersatzanspruch parallel dazu. Auch die Fahrlässigkeit macht typischerweise nichts Anderes, als dem Schädigenden ein naheliegendes Alternativverhalten vorzuwerfen, das nicht erbracht wurde. Wenn es sich nicht plausibel widerlegen lässt, ist das Verschulden gegeben. Die Parallelen sind – zumindest seit Sturgeon (mehr unten) – wirklich kein Zufall mehr. Ursprünglich gab es Unterschiede, gewachsen aus der damaligen Konzeption der Exkulpation. Heute gibt es sie kaum noch.
An der Endform des Ausgleichsanspruchs sind wir jedoch noch nicht angekommen. Vor dem nächsten Abschnitt hilft es sehr, sich noch einmal die bewusst emotionalisierte Geschichte zu Beginn durchzulesen. Sie sollte mehr als nur ein bildlicher Aufhänger sein. Wir fingen an mit Entschädigung für niemanden und sind inzwischen bei Entschädigung für den annullierten Flug, aber nur für diesen. Das kann allerdings nur schwer das letzte Wort in der Sache gewesen sein.
E. Sturgeon – Endform, Quantifizierung der Unannehmlichkeit

Wenn die Dinge nicht so rund am Flughafen laufen, kann es schnell eng werden. Foto von Guzman Pixels auf Unsplash
Die Rechtssache Sturgeon (EuGH, Urteil v. 02.07.2009, Rs. C-402/07) war in vielerlei Hinsicht revolutionär für das Rechtsgebiet. Sehnsüchtige Reisende wie muntere Anwält:innen erfuhren endlich, wie die konkreten Hürden bei der Darlegung einer Annullierung in Grenzfällen sind. Die hat das Gericht – wissend um die strengen Rechtsfolgen der Verordnung – sehr hoch geschraubt. Nicht einmal Falschmeldungen oder Verlängerungen der Wartezeiten ad infinitum sollten für eine Annullierung reichen, wenn der Flug am Ende tatsächlich stattfindet. (EuGH, Urteil v. 02.07.2009, Rs. C-402/07 – Sturgeon, Rn. 36 – 38.) Unfassbar. Die findige Jursti:in braucht nicht viel Kreativität, um sich eine Menge Missbrauch auszudenken.
So eigenartig es klingen mag: Der Gesetzgeber sah scheinbar das Problem. An Art. 6 EuFlugVO wird das sehr deutlich. Ab fünf Stunden Abflugverspätung erlaubte er entrüsteten Passagieren, das Handtuch zu werfen (Art. 6 I lit. c) EuFlugVO) oder den Flug morgen zu nehmen (siehe die Möglichkeit eines Hotels und Shuttle in Art. 9 I lit. b) und c) iVm Art. 6 I lit. b) EuFlugVO). Auch große Verspätungen waren unserem Verordnungsgeber schließlich ein Begriff, siehe ErwGrde 2 und 3 EuFlugVO und erhielten ihren eigenen Guss.
Aber was ist mit ErwGrd 15, wo von zumutbaren Maßnahmen bei großen Verspätungen die Rede ist? Klingt da wieder der Ex-Airline-Apologet raus, der jetzt einräumen muss, dass die Erwägungsgründe manchmal die Müllhalde alter Entwürfe sind? So zwingend ist meine erste conclusio also nicht.
Den EuGH dürften auch Fälle wie den einleitenden bewegt haben. Im schlimmsten Fall müssten Menschen tagelang an ihrem sterilen Platz in FRA, der Hauptstadt des Verbrechens ausharren oder in Winz-Klitschen wie HHN die schönsten Stunden des Lebens verlieren – bei ausgelassener, omnipräsenter Endzeitstimmung, die sich ungelogen in Aufständen entladen kann. Sprecht gern mal mit jemandem der Kundenbetreuung am Flughafen bei einer Airline eurer Wahl. Es ist nicht übertrieben.
Ärgernisse und Unannehmlichkeiten, ohne jegliche Kompensation? Naheliegende Schäden hat man bei so Hinhaltetaktiken doch auch. Die Jurist:in merkt: Es riecht nach Analogie.
Wahrlich, wenn meine erste conclusio alles gewesen wäre, wäre die Entscheidung heute allenfalls in ausgewählten Handbüchern von Expert:innen in einer Fußnote zu finden. Das Gericht sah die große Kluft, die es mit seiner engen Annullierungsdefinition riss, und wollte die nicht ganz fernliegenden Missbrauchserwägungen des damaligen Generalanwaltes aufgreifen.
Was liegt denn näher als einen Flug mental schon auf Eis zu legen, aber Passagiere dann erst einmal mit ein paar vorsichtigen Meldungen über kleinere Fortschritte n Stunden „hinzuhalten“, bis zumindest die Grenzen des Art. 6 EuFlugVO ausgereizt waren? (Freilich müsste die böse Airline dann natürlich auch die Kapazitäten in der eigenen Flotte oder denen eines Alliance-Partners auftreiben können, um ihre hier vorausgesetzte Scharade bis zum Ende durchziehen zu können.)
Stunden… In denen rechnet die Verordnung auch. Wir erinnern uns an Art. 6 EuFlugVO. Hier ging es aber um die Abweichung der idealen Abflugzeit von der tatsächlichen. Wie ist es mit den Personen, die nicht das Handtuch warfen, durch die Hölle gingen und ihren Flug doch antraten? Irgendwo macht es wertend doch keinen Unterschied, ob ein Flug gestrichen und der Passagier umgebucht oder er so spät geflogen ist, dass Streichung + Umbuchung fast schon humaner gewesen wäre.
In Fall 1 braucht der Passagier nicht einmal einen Leidensweg, um seinen normativen Schmerz als Aufhänger für einen pauschalen Ausgleichsanspruch versilbert zu bekommen. In Fall 2 durchleidet der Passagier seine Passion und sieht am Ende nichts außer einem Ende.
Irgendwann mussten Ärgernis und Unannehmlichkeiten also konzeptionell so nah an der Annullierung sein, dass der Zeitverlust faktisch ähnlich wie eine Annullierung schadet. Der Gerichtshof begründete diesen Schritt mit einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts: Dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt der Unannehmlichkeit einen Gleichlauf zwischen Annullierung und einer großen Verspätung forderte.
Praktischerweise schwamm der Begriff als wenig beachtetes Add-On zu Art. 6 EuFlugVO auch noch irgendwo in den Erwägungsgründen herum – außer als unvollendeter Rattenschwanz in ErwGrd 15.
Der Gerichtshof brauchte eine Zahl und sagte einfach mal drei, vermutlich als Mittelwert zwischen null und den in Art. 6 EuFlugVO präsenten fünf Stunden. Um Kollisionen mit dieser benannten Norm zu vermeiden, betonte er zudem, dass es um die Ankunftsverspätung, nicht die Abflugverspätung ging. Diese dogmatische Herleitung ist sehr wichtig und der EuGH wird sie in allen Folgeentscheidungen betonen.
Wer mit einem verspäteten Flug eine Ausgleichszahlung bekommen möchte, muss den Leidensweg gegangen sein. Er muss am Ende an seinem Ziel – egal wie – ankommen. Tut er es nicht oder gibt er vorher auf, wartet auch kein Gold am Ende des Regenbogens. Der EuGH ging letztes Jahr sogar noch weiter: Kommst du durch Eigenintiative schneller als der verspätete (!) Flug an, gibt es keine Ausgleichsleistung. (EuGH, Urteil v. 25. Januar 2024, C-54/23 – WY/Ryanair.)
Denn: Der Gleichlauf zwischen Verspätung und Annullierung rechtfertigt sich in den Augen des europäischen Gleichbehandlungsgrundsatzes durch das erlittene Leid der Ankunftsverspätung. Wer den Weg durchsteht darf wegen des tatsächlich Erlittenen nicht schlechter stehen als jemand, bei dem die Airline gleich transparent war. Alles davor ist bloß eine schon abschließend geregelte, individuelle Abflugverspätung bzw eine zu kleine Ankunftsverspätung.
Letzteres ist die altbekannte Grausamkeit von Fristenlösungen – Klarheit für den Verlust von Einzelfallgerechtigkeit mit dem Gewinn eines zügigen Vollzuges. Bedingt durch die Eile des Geschäfts und Sympathie für den, der den Flug aufgibt, geschehen hier häufig Fehler. Vergegenwärtigen wir uns den emotionalen Fall von oben, wird das menschlich verständlich. Wie kann es denn sein, dass derjenige, der auch mehr als drei Stunden wartete, aber dann aufgab, keine Entschädigung erhält? Er litt doch auch!
Mag sein, aber dadurch wird daraus keine Ankunftsverspätung – und an die knüpfte der EuGH das gleichheitsbegründende Maß an Leid. Es klingt der Kompromiss des obersten EU-Gerichts heraus, welcher in der restriktien Annullierungsdefinition anklang: Wenn die Airline den Flug anbietet, kann im Grundsatz erwartet werden, dass der Flug auch in irgendeiner Form angetreten wird. Art. 6 EuFlugVO gibt die Möglichkeit, vorher das Handtuch zu werfen. Wer das tut, muss sich hieran nach Wertung der Verordnung auch festhalten lassen.
F. Rezeption, Resignation, Etablierung

Kastalien und die Praxis zeigten sich anfangs gleichermaßen entrüstet. Foto von Christian auf Unsplash.
Dieser große Schritt löste wieder eine riesige Furore raus: Ultra-vires-Akt, Willkür, Ersatzgesetzgebung! Was ist mit dem Montrealer Übereinkommen?! Ein Verspätungsschaden wird da doch schon liquidiert! Diese Rechtsprechung konnte doch nicht richtig sein! Ein weiteres EuGH-Urteil später wussten wir, dass sie es – Überraschung, Überraschung – doch war. (EuGH, Urteil vom 23.10.2012, C-581/10 – Nelson.)
Wenn wir uns die Natur der Ausgleichsleistung als pauschalen Schadensersatzanspruch anschauen, wie ich es vorschlage, gab es diese Kollision nie. Es war von vornherein angedacht, dass ein Fluggast mehr kriegen können sollte. (Artt. 1, 12 I 2 EuFlugVO). Der EuGH sieht in der Ausgleichsleistung daher auch konsequenterweise einen standardisierten Mindestschaden (EuGH, Urteil vom 23.10.2012, C-581/10 – Nelson, Rn. 46 f.) und setzt seine dogmatischen Grenzen auch 16 Jahre später konsequent durch.
Die wahre Revolution dieser Entscheidung zeichnete sich in einzelnen Folgeentscheidungen ab. Während auf Sturgeon die wundervollen Rechenoperationen a la Peskova und Pesca zurückgehen, kam das Offensichtlichste nie so recht zur Sprache: Plötzlich kennen Unannehmlichkeiten eine Zahl. Ein Gefühl hat eine Nummer – und kann auf einmal eine große Rolle bei der Exkulpation spielen. Auf einmal ist das „Ärgernis“ greifbar.
Ankunftsverspätungen sind im Kern individuell, da sie je nach individueller Reiseroute bei gleichem Endziel abweichen können; Annullierungen betreffen eine ganze Reihe von Menschen. Die zuvor rein im institutionellen Bereich verorteten zumutbaren Maßnahmen haben dadurch, dass eine Ankunftsverspätung von x größer gleich drei Stunden einer Annullierung gleichstehen, auf einmal eine individuelle Komponente bekommen.
Die Auswirkungen dieses kleinen Details sind gigantisch und wurden vermutlich nicht in der Form antizipiert, als der EuGH sie kreierte. Nichtsdestotrotz sind sie da – und haben das Rechtsgebiet nachhaltig geändert. Die angedeutete Rechnerei kommt in jedem Fall auch noch, doch sie lässt sich nur mit mehr Background zu Art. 5 III EuFlugVO verstehen.
Der folgt im nächsten Post!
Um jedoch den rechtspolitischen Part auch zu einem Abschluss zu bringen: Die Versuchung ist auf Seiten einer Airline groß, das ganze Projekt „Fluggastrechte“ und vor allem den pauschalen Ausgleichsanspruch als überzogenen Systemfehler zu verrufen. Bevor die Steine und Voucher fliegen: Bedenkt auch, dass lediglich 2,32 % aller Flüge im gesamten Netz von EUROCONTROL (!) aus kommerziellen Gründen annulliert werden. Sprich: Bei den verbleibenden 97,7 % läuft es gut oder war es – zumindest vermutet – nicht zu vermeiden. Diese Ansprüche sollen zumindest ihrer Idee nach also nur eine kleine Gerechtigkeitslücke stopfen; in einer vernachlässigenswerten Grauzone schießen sie über das Ziel hinaus.
Auch in der Grauzone mildern zwei Faktoren das erlebte Leid. Erstens bekommt der Passagier einen pauschalten Mindestschadensersatz, der ihm in nahezu allen Fällen in größerer Höhe zustehen dürfte. Mit diesem „leichten“ Geld sind in der Praxis auch die meisten frustrierten Passagiere mehr als zufrieden, wie der Erfolg von Rechtsdienstleitern mit diesen Ansprüchen zeigt.
Zweitens besteht bei den eifrigeren Kläger:innen die Möglichkeit, die gezahlte Entschädigung anzurechnen. Die lediglich in die Höhe eingeflossene Sanktionsfunktion verkümmert bei den meist sehr viel höheren Gesamtschäden eines Passagiers zu einem unbedeutenden Nebenpunkt.
Auch von den vermeintlichen dogmatischen Inkonsequenzen zu den anderen Gebieten der Passagierrechte verbleibt wenig. Die fluggastrechtliche Ausgleichsleistung hat sich in eine andere Richtung entwickelt, weil sie einen anderen haftungsrechtlichen Rahmen hatte. Innerhalb desselben hat sie sich, gemessen an den Erwartungen an sie, zwar verschärft, aber durch Annäherungen ans MÜ auch an anderer Stelle wieder eingefangen.
Am Ende vom Tag verwirklicht die Ausgleichsleistung ein kleines Bisschen Gerechtigkeit in dem Versuch von Institutionen, Massenschäden auf verschiedene Weisen wegzumanagen – und kommt ihnen damit sogar noch paradoxerweise etwas entgegen. Bevor also wieder voreilig gegen die vermeintlich überzogene Ausgleichsleistung geschossen wird, lade ich zu einem etwas differenzierteren Blick auf die Sache ein. Habt natürlich auch gern eine andere Meinung als ich. Gott weiß, dass ich manchmal etwas zu viel von mir halte und daher immer für Gegenargumente offen bin.
Vielen Dank für die Zeit!
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1Europäische Kommission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council establishing common rules on compensation and assistance to air passengers in the event of denied boarding and of cancellation or long delay of flights, COM/2001/0784 final – COD 2001/0305, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=COM%3A2001%3A0784%3AFIN. (Abrufdatum: 10.04.2025.)
2Quelle: https://ansperformance.eu/economics/cba/standard-inputs/chapters/operational_cancellation_rate.html (Abrufdatum: 13.04.2025.)
3Kommission, COM/2001/0784 final – COD 2001/0305, wie oben.
4Opinion of the Commission pursuant to Article 251 (2), third subparagraph, point (c) of the EC Treaty, on the European Parliament’s amendments to the Council’s common position regarding the proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council establishing common rules on compensation and assistance to passengers in the event of denied boarding and of cancellation or long delay of flights, and repealing Regulation (EEC) No 295/91 amending the proposal of the Commission pursuant to Article 250 (2) of the EC Treaty – COM/2003/0496 final – COD 2001/0305, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=COM%3A2003%3A0496%3AFIN (Abrufdatum: 10.04.25.)
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